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Gemeinschaftsgutachten kann bestenfalls die Gegenwart prognostizieren – kein Argument gegen den allgemeinen Mindestlohn

Während das Zustandekommen einer großen Koalition nun wahrscheinlicher geworden ist, in der seitens der SPD – ihrem eigenen Bundestagswahlprogramm folgend – Forderungen nach Steuererhöhungen für Wohlhabende, sowie die Einführung eines allgemeinen gesetzlichen Mindestlohns einzubringen wären – Positionen, die zugleich von einer deutlichen Mehrheit der Bevölkerung eingefordert werden – haben die großen deutschen Wirtschaftsinstitute in ihrem jüngsten Gemeinschaftsgutachten Empfehlungen ausgesprochen, die diesem Mehrheitswillen der Bevölkerung entgegenstehen könnten. So nutzte der CDU/CSU-Fraktionsvorsitzende, Michael Meister, bereits das im Auftrag der noch amtierenden schwarz-gelben Bundesregierung durchgeführte Gutachten, um erste ablehnende Signale für die genannten Forderungen in Richtung SPD zu senden:

„Wer angesichts dieser Diagnose Steuererhöhungen fordert, riskiert leichtfertig, die Binnennachfrage abzuwürgen und damit das Wirtschaftswachstum zu gefährden. Stattdessen sollten wir die erfolgreiche Konsolidierungspolitik der vergangenen Jahre weiter fortführen. Die Institute bestärken uns darin. Denn sie sehen als Voraussetzung für das erwartete Wirtschaftswachstum von 1,8 Prozent im Jahr 2014 sowohl einen eng begrenzten Ausgabenanstieg als auch den Verzicht auf steuerrechtliche Änderungen.“

Wird hier aufgrund von gutachtenbasierten Mahnungen eine Absage an Anliegen erteilt, obwohl diese für eine überwiegende Mehrheit der Bevölkerung von zentraler Bedeutung sind und sich zudem in Anbetracht der Entwicklungen des letzten Jahrzehnts sehr gut begründen lassen – Deutschland hat mittlerweile einen der größten Niedriglohnsektoren in Europa und gehört in Sachen Abwesenheit eines gesetzlichen Mindestlohns zur kleinen Minderheit in der EU, zudem sieht es sich durch damalige Steuersenkungen mit großen Löchern in den öffentlichen Finanzen konfrontiert – so müsste dem Mahner schon eine sehr große Zuverlässigkeit zugesprochen werden, um sich dennoch an seinem Ratschlag zu orientieren.

Schauen wir jedoch auf die Prognoseleistungen der bisherigen Gemeinschaftsgutachten, ergibt sich ein – höflich gesagt – überaus zweifelhaftes Bild bezüglich eben dieser Zuverlässigkeit. In Abbildung 1  sind die Prognosen der Gemeinschaftsgutachten für das Wirtschaftswachstum gegen das tatsächliche (reale) BIP-Wachstum1 der entsprechenden Jahre für den Zeitraum 2003 bis 2012 aufgetragen.2 Ausgespart wurde das Krisenjahr 2009, um hier der Seltenheit der Ereignisse Rechnung zu tragen.

Gemeinschaftsgutachten-Abb1

 

Obwohl es sich in der Abbildung um die Frühjahresprognosen (jeweils April) für das jeweilige gleiche Jahr handelt, also bereits Konjunkturdaten des statistischen Bundesamtes für die ersten Monate zum Zeitpunkt der Prognose vorlagen, sind teilweise dramatische Abweichungen zwischen tatsächlichem Wirtschaftswachstum und Prognose zu erkennen. Die gestrichelte Linie stellt die Situation einer perfekten Prognose dar. Würden prognostizierte Werte und tatsächliche Werte also übereinstimmen, müssten sämtliche Datenpunkte sich auf dieser Linie aufreihen. Die Prognoseleistung der Gemeinschaftsgutachten ist jedoch weit hiervon entfernt. So wurde für das Jahr 2010 etwa eine Prognose von 1,5% BIP-Wachstum abgegeben, während das tatsächliche Wachstum schließlich bei 4,2% lag. Über die hier betrachteten Jahre hinweg hätten  durch die Prognoseleistungen der Gemeinschaftsgutachten lediglich 47% der Variabilität des BIP-Wachstums vorhergesagt werden können3, obwohl es sich um Prognosen des laufenden Jahres handelte4.

Erwartungsgemäß günstiger ist die Situation bei den Herbstprognosen (jeweils Oktober) für das jeweilige gleiche Jahr, da hier dementsprechend mehr Konjunkturdaten für das laufende Jahr vorliegen. Abbildung 2 zeigt, wie die Prognosedaten hier deutlich näher an der gestrichelten Linie liegen. Gegenüber den Frühjahresprognosen kommt es also zu einer klaren Annäherung an das tatsächliche BIP-Wachstum. Dennoch verbleiben auch hier teilweise deutliche Abweichungen, wie etwa das Jahr 2006 mit einer Diskrepanz von 0,7%-Punkten zwischen Prognose und tatsächlichem Wachstum demonstriert.

Gemeinschaftsgutachten-Abb2

Schwieriger dürfte eine Prognose für das Folgejahr ausfallen, da hier der Prognosezeitraum größer ist und noch keinerlei Konjunkturdaten vorliegen. So könnte allerdings in diesem Zusammenhang auch von einer wirklichen Prognoseleistung die Rede sein, wenn die prognostizierten Werte einigermaßen nahe an den tatsächlichen BIP-Wachstumsdaten lägen. Bei dem Bild für die Prognoseleistungen der Gemeinschaftsgutachten, das sich hier ergibt, ist jedoch allenfalls der Ausdruck „miserabel“ geeignet. In Abbildung 3, in der die Frühjahresprognosen aus dem jeweils vorherigen Jahr gegen das tatsächliche BIP-Wachstum des prognostizierten Jahres aufgetragen wurden, zeigt sich, wie beide Datenreihen geradezu eklatant voneinander abweichen.

 

Gemeinschaftsgutachten-Abb3

                                                                                                                                                                                                                      Für den betrachteten Zeitraum ergibt sich nicht nur eine absolute Abweichung zwischen Prognose und tatsächlichem Wachstum von durchschnittlich rund 1,7%-Punkten des BIP, sondern es ist darüber hinaus auch noch eine ungünstige Systematik im Prognoseirrtum erkennbar, dahingehend, dass ein relativ hohes Wachstum eher mit einer niedrigen Prognose versehen ist (siehe Jahre 2006, 2007, 2010, 2011), während ein relativ niedriges Wachstum mit höheren Prognosen einhergeht (siehe Jahre 2004, 2005, 2008, 2012). Etwas spöttelnd könnte man hier den Ratschlag geben, die Angaben in den Gemeinschaftsgutachten für diese Kategorie von Prognosen einfach gerade in ihr Gegenteil zu verkehren5, um genauer über das zukünftige Wirtschaftswachstum informiert zu sein.6

Besonders interessant ist nun die Prognoseleistung der Herbstgutachten für das jeweilige Folgejahr, da es sich bei dieser Kategorie von Prognosen gerade um den eingangs geschilderten Fall von Gemeinschaftsgutachten handelt, der für CDU/CSU als Abwehrargument gegen einen allgemeinen gesetzlichen Mindestlohn oder Steuererhöhungen für Wohlhabende verwendet werden könnte, wie sich bereits andeutete. Betrachten wir die Situation für den Zeitraum von 2004 bis 2012 unter Auslassung des Krisenjahres 2009 für diese Kategorie von Prognosen, stellt sich auch hier ein überaus ernüchterndes Bild dar. Abbildung 4 zeigt anhand immenser Abweichungen zwischen Prognose und tatsächlichem BIP-Wachstum, dass die Gemeinschaftsgutachten hier schlicht über keine Prognosefähigkeit für das Folgejahr verfügen. Nur für das Jahr 2012 lag die Prognose zufriedenstellend nahe an dem tatsächlichen Wachstum. Für alle anderen Jahre ergibt sich eine große bis eklatante Abweichung. Die durchschnittliche absolute Abweichung für diese Kategorie von Prognosen liegt bei 1,2%-Punkten des BIP. Bei derart unzutreffenden Prognosen sollte wohl von einer ernsthaften Verwendung abgesehen werden, besonders da sich für einzelne Jahre immense Abweichungen zeigen. So wurde im Herbstgutachten 2009 etwa ein Wirtschaftswachstum von 1,2% des BIP für das Jahr 2010 prognostiziert, tatsächlich eingetreten ist schließlich ein Wachstum von 4,2%.7

Gemeinschaftsgutachten-Abb4

                                                                                                                                                                                                                                                   Die Prognoseleistungen werfen wie dargestellt ein überaus negatives Bild auf die Zuverlässigkeit der Gemeinschaftsgutachten. Da es sich bei dem BIP-Wachstum um eine sehr zentrale Größe handelt, in der gemäß volkswirtschaftlicher Verwendungsrechnung die einzelnen Komponenten (private Konsumausgaben, Investitionen, Konsumausgaben des Staates, Exportüberschüsse) zusammengeführt werden, vererben sich die Zweifel auch auf die Betrachtung derartiger Größen, sowie Zukunftsaussagen über sie seitens der genannten Prognostizierenden. Zu klären wäre, inwiefern die den Prognosen der Wirtschaftsforschungsinstitute zugrunde liegenden theoretischen Annahmen über makroökonomische Zusammenhänge überhaupt eine empirisch gerechtfertigte Grundlage besitzen. Derartige Zweifel bestehen jedoch, wie mittlerweile weithin bekannt sein dürfte, nicht nur gegenüber den mangelhaften Prognoseleistungen der beteiligten Wirtschaftsforschungsinstitute, sondern aufgrund umfassender Fehlleistungen der momentan vorherrschenden ökonomischen Theorien allgemein.8

In Anbetracht einer derartigen Situation auf unzuverlässige Prognosemodelle mit unzutreffenden Annahmen zu setzen, wäre fahrlässig. Vielmehr kann es sich empfehlen, einige grundlegende Entwicklungen der vergangenen ein bis zwei Jahrzehnte zur Kenntnis zu nehmen. So kam nicht zuletzt jenes Wirtschaftsforschungsinstitut, das in diesem Jahr erstmals wieder am Gemeinschaftsgutachten beteiligt wurde, in seinem DIW Wochenbericht Nr. 26 (2013) selbst zu dem Schluss:

„Betrachtet man die wirtschaftliche Entwicklung Deutschlands aus einer längerfristigen Perspektive, so zeigt sich, dass das Land im Vergleich zu den meisten EU-Ländern und vielen Euroländern in einigen Bereichen zurückgeblieben ist. Seit 1999 haben die Euroländer im Durchschnitt mehr Wirtschaftswachstum erzielt als Deutschland, und ein großer Teil der erstarkten Wettbewerbsfähigkeit ist auf Lohnzurückhaltung anstatt auf Produktivitätszuwächse zurückzuführen. Die Investitionsquote war längere Zeit rückläufig und ist im internationalen Vergleich niedrig.“

Auch viele andere haben darauf hingewiesen, wie schlecht es um die Lohnentwicklung9 und besonders den Niedriglohnsektor in Deutschland bestellt ist.10 Ein allgemeiner gesetzlicher Mindestlohn könnte hier das deutsche Lohngefüge nicht nur stabilisieren, sondern ebenso den Niedriglohnsektor zu beseitigen helfen. Meta-Studien zeigen überdies, dass entgegen der weit gestreuten Meinung keine negativen Beschäftigungswirkungen von einem allgemeinen Mindestlohn ausgehen.11 Heiner Flassbeck weist des Weiteren bereits seit vielen Jahren darauf hin, welch desaströse Wirkung die historisch einzigartige Lohnzurückhaltung in Deutschland auf die Eurozone ausübt und wie sie letztlich zu einer untragbaren Situation geführt hat, indem andere Länder durch die deutsche Unterwanderung vereinbarter Inflationsziele12 kaputt konkurriert werden.13 Wie sich in der angegebenen Studie zeigt, hat sich das deutsche Wirtschaftsmodell auch dadurch in die Sackgasse manövriert, dass der Unternehmenssektor mittlerweile zu einem Nettosparer geworden ist, der somit nicht mehr seiner historischen Aufgabe nachkommt, die Ersparnisse der privaten Haushalte in produktive Investitionen zu überführen. Dies erfolgte wohlgemerkt in einer langen Phase sinkender Unternehmens- und Spitzensteuersätze, sowie stagnierender Reallöhne, die bei den unteren EinkommensbezieherInnen durch mangelnde Kaufkraft gerade zu dem Ausbleiben von Inlandsnachfrage geführt hat und weiterhin führt.

In Anbetracht der dargestellten dramatischen wirtschaftlichen Entwicklung in Deutschland nicht auf die nahe liegenden und von der Mehrheit der Bevölkerung befürworteten Maßnahmen (allgemeiner gesetzlicher Mindestlohn, sowie Steuererhöhungen für jene, die auf der Gewinnerseite der gewachsenen Ungleichheit stehen) zurückzugreifen, sondern sich stattdessen hinter prognostisch mehr als zweifelhaften Empfehlungen zu verstecken, grenzt an Absurdität (oder eben klassische Interessensvertretung im Dienste einer kleinen oberen Bevölkerungsschicht).

 
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  1. Dieses ist den Angaben der Herbstgutachten zum tatsächlichen Wirtschaftswachstum, die jeweils zwei Jahre später veröffentlicht wurden, entnommen. []
  2. Datenquelle siehe CESinfo Gemeinschaftsgutachten Archiv, http://www.cesifo-group.de/de/ifoHome/facts/Forecasts/Gemeinschaftsdiagnose/Archiv.html, sowie Konjunkturarchiv des IfW Kiel, https://www.ifw-kiel.de/wirtschaftspolitik/konjunkturprognosen/archiv/2013 []
  3. Der Konjunktiv ist zu verwenden, da man sie zuvor der in der Abbildung angegebenen linearen Transformation hätte unterziehen müssen, um gerade den brauchbaren Anteil der Prognosen zu erhalten []
  4. Die durchgezogene Linie stellt eine lineare Regressionsgerade dar, deren Gleichung und Varianzaufklärung im Diagramm enthalten sind. []
  5. Besser gesagt, sie der angegebenen linearen Transformation mit negativem Regressionsgewicht zu unterziehen. []
  6. Da es sich jedoch um einen relativ eingeschränkten Betrachtungszeitraum handelt und die Varianzaufklärung lediglich 63% beträgt, ist hiervon eher abzusehen und am besten einfach keine Aussage über das Folgejahr zu treffen, die eine falsche Genauigkeit suggeriert []
  7. Dies gemäß rückblickender Angaben des Herbstgutachtens 2012. Zu beachten ist des Weiteren, dass durch das Konjunkturpaket II im Jahr 2009 anti-zyklische Maßnahmen gegen die Krise ergriffen wurden. Diese hätten jedoch in den Prognosen für das Jahr 2010 ihre Berücksichtigung finden können, da sie bereits im Januar 2009 beschlossen wurden. []
  8. Siehe z.B. Heiner Flassbeck (2004), Glasperlenspiel oder Ökonomie, http://www.flassbeck.de/pdf/2004/26.8.04/GLASPERL.pdf, oder http://www.nachdenkseiten.de/?p=15789, http://www.annotazioni.de/post/1085, http://www.nachdenkseiten.de/?p=18350 []
  9. Allein seit 1999 sind dadurch, dass die gesamtwirtschaftlichen Stundenlöhne nicht mehr an den Produktivitätszuwächsen beteiligt wurden, den ArbeitnehmerInnen kumuliert rund 1350 Mrd. Euro vorenthalten worden. Diese Beträge fehlen in den Sozialversicherungssystemen. Wären die Löhne gemäß Produktivitätszunahme gesteigert worden, würde auch der demographische Wandel kein ökonomisches Problem darstellen. []
  10. Siehe z.B. Gerhard Bosch (2012), Prekäre Beschäftigung und Neuordnung am Arbeitsmarkt, http://www.iaq.uni-due.de/iaq-standpunkte/2012/sp2012-02.pdf []
  11. Siehe z.B. John Schmitt (2013), Why Does the Minimum Wage Have No Discernible Effect on Employment?, Center for Economic and Policy Research. []
  12. Die sog. nominellen Lohnstückkosten, die die Lohn- und Produktivitätsentwicklung beinhalten, sind der zentrale Bestimmungsfaktor für die gesamtwirtschaftliche Preisentwicklung (BIP-Deflator). []
  13. Siehe hierzu auch Flassbeck & Lapavitsas (2013), The Systemic Crisis of the Euro – True Causes and Effective Therapies, Studie im Auftrag der Rosa Luxemburg Stiftung []

Jascha Jaworski

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