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Die vernachlässigte Einzigartigkeit der US-Politik

Falsch verstandener Antiamerikanismus

Wer zu häufig Kritik an den Vereinigten Staaten übt, der oder die könnte sich mit dem Vorwurf des Antiamerikanismus konfrontiert sehen. Zweifellos, ein derartiges Phänomen kann sich hinter Kritik natürlich verbergen, die wirklichen Motive einer Person, sofern sie nicht in aller Deutlichkeit geäußert werden, lassen sich allerdings erst aus Interpretationen ihrer Handlungen und Äußerungen ableiten. Hier kommt ein propagandistisch verwertbares Element in die Angelegenheit, wenn grundsätzlich so getan wird, als ließen sich die Motive eben doch unmittelbar beobachten, indem z.B. vehemente Kritik am Verhalten der USA einfach gleichgesetzt wird mit Antiamerikanismus. Wer dies tut, hat den Begriff leider überhaupt nicht verstanden. Mehr noch, wer dies tut, trägt zu einer Entleerung, bzw. Verfälschung von Begriffen bei, die ihre wertvolle Funktion der Identifikation und Erklärung gefährlicher Motivlagen und Ereignisse nicht mehr erfüllen können.

So können aufklärerische Begriffe leider auch in den Dienst von Machtinteressen gestellt werden. Diese Gefahr liegt jedoch der Sprache allgemein zugrunde, da wir die Begriffe, die wir im Alltag verwenden, selten hinterfragen. Auch haben wir für die meisten nie eine formale Definition betrachtet, stattdessen leiten wir uns ihre Bedeutungen einfach aus den alltäglichen Sprechakten ab.1 Dies öffnet jedoch Manipulationen und Verdrehungen Tür und Tor, indem Begriffe einfach gezielt falsch auf bestimmte Ereignisse angewendet werden, etwa um die mit ihnen assoziierte Bedeutung in der öffentlichen Meinung zu verschieben oder in unangemessener Weise auszudehnen. Irgendwann merkt dann auch kaum noch jemand, dass Krieg sich mittlerweile als Frieden bezeichnen lässt.2 Orwell gehörte wohl zu den populärsten Personen, die sich mit dieser Herrschaftstechnik ausgiebig auseinandergesetzt haben.

Ich schicke dies voraus, da ich den Eindruck habe, dass man als linksorientierter Mensch leider sehr anfällig für Label sein kann, die einen selbst oder andere in eine rechte Ecke stellen sollen, obwohl die Angemessenheit der Kategorisierung nicht genauer überprüft wurde. Wer dem nachgibt, anstatt sich zu überlegen, inwiefern Begriffe gezielt falsch eingesetzt werden, um etwa Kritik zu ersticken, spielt dabei leider gerade den reaktionären Kräften auch hierzulande in die Hände. Diesen wird es so nämlich zunehmend überlassen, vorhandene Missstände und Widersprüche zu benennen, die die Allgemeinheit bewegen. Hierdurch können reaktionäre Kräfte dann nicht nur besorgniserregende Deutungshoheit erlangen, sondern ebenso an Glaubwürdigkeit in der öffentlichen Meinung gewinnen, die sich u.U. wiederum in Zuspruch für einige ihrer sonstigen Standpunkte übersetzt.

Europa und Russland – keine Leuchtfeuer für Frieden und Gerechtigkeit

Eine Zurückhaltung in der Benennung offenkundiger Missstände ist meinem Eindruck nach teilweise gerade in linken Kontexten bezüglich der Politik der Vereinigten Staaten erkennbar. Besser sollte man sagen: ihrer Regierungen und der durch sie getragenen herrschenden Klasse. Zweifellos, Herrschaftsverhältnisse und Unterdrückung sind weltweit zu beobachten, und es wäre eine abenteuerliche theoretische Konstruktion, ihre Existenz auf einen einzelnen Staat oder gar eine kleine Fraktion in diesem zurückzuführen. Darum geht es allerdings auch überhaupt nicht.

Es sollte allerdings auch nicht darum gehen, aus dem Umstand, dass elende Verhältnisse auf dem Planeten eine ganze Reihe an Ursachen haben, wiederum zu der Schlussfolgerung zu gelangen, dass sämtliche kapitalistischen Machtgebilde, die Kriege führen, die die eigene Bevölkerung in Armut halten und die imperiale Bestrebungen aufweisen, gleich relevant in Bezug auf den politischen Kampf wären. Nein, wenn man nicht nur mit seinem Weltbild herumlaufen möchte, das beinhaltet, dass eben jegliche Form von Unterdrückung, Ausbeutung und Gewalt zu bekämpfen ist, sondern wenn man auch eine realistische Perspektive auf Veränderungen eröffnen möchte, dann sollte man sich Gedanken darüber machen, wie sich das Kausalgeflecht hinter den negativen Erscheinungen der Welt genauer zusammensetzt. Man sollte sich Gedanken darüber machen, welche Bedingungen bei der Aufrechterhaltung oder Intensivierung menschenverachtender Zustände besonders relevant sind und wo zu jeder Zeit die jeweils wichtigsten Wirkpunkte für das eigene Handeln liegen könnten.

Weder die EU, noch Russland, noch die USA oder viele andere Staaten nähern sich linken Idealvorstellungen auch nur an. Von durchweg menschenfreundlichen Gebilden kann man wahrlich nicht reden. Die Staaten, die heute in der EU vereinigt sind, haben historisch einen grausamen Kolonialismus über die Welt gebracht, dem Menschenverachtung tief eingraviert war. Es wurden Grenzen ohne Rücksicht auf sprachliche und kulturelle Gegebenheiten gezogen, viele Millionen Menschen wurden geradezu abgeschlachtet oder eben versklavt. Die Folgen dieser Wüterei sind der Grundstein von Armut und Konflikten in weiten Teilen der Welt noch heute. Dann die zahlreichen brutalen und massenmordenden Diktaturen, wie sie mit den Namen Hitler, Franco, Mussolini etc. verbunden waren, sie zeigen ebenso in besonderer Weise auf, welch schreckliche Verbrechenssysteme auf europäischen Boden gedeihen konnten. Und leider gehen Macht- und Ausbeutungsverhältnisse ausgeübt von europäischen Staaten auch heute gegenüber anderen Erdteilen weiter. Allein die Mittel mussten zum großen Teil eleganter gestaltet werden, als dies noch zu Kolonialzeiten der Fall war, da sich die heutigen Staatsgebilde als Demokratien verstehen, die zumindest offiziell die Menschenrechte achten und gegenüber der öffentlichen Meinung ein bestimmtes Bild einhalten müssen. Ich denke, für die europäischen Staaten ist die Formulierung ganz angemessen, die DIE LINKE in einem ursprünglichen Entwurf ihres Programms zur Europawahl 2014 für die EU als Ganzes gewählt hatte, indem sie von einer “neoliberalen, militaristischen und weithin undemokratischen Macht” sprach.3 Wer also die europäischen Staaten in den Himmel hebt oder auf ihre hohe Achtung der Menschenwürde verweist, liegt leider sehr falsch. Ein wenig Kratzen an der Oberfläche genügt da schon, um ganz andere Seiten aufzuzeigen.

Und ebenso Russland: als historisches Zarenreich, in seiner späteren Form unter dem massenmordenden Stalin, nach dem Fall des “Eisernen Vorhangs” (an dessen Existenz der Westen freilich nicht unschuldig war) als neoliberaler Selbstbedienungsladen für Konzerne und zukünftige Oligarchen in den 90ern (eine Schocktherapie, die wiederum viel mit dem Westen zu tun hatte)4, oder eben in seiner heutigen Form als Oligarchenherrschaft mit reaktionären Zügen – die auszuführen ich mir hier in Anbetracht des westlichen Übereifers spare und einfach auf die Mainstreammedien verweise – auch bei diesem Staat handelt es sich gewiss um kein System, das man als linker Mensch befürworten müsste (was freilich nichts, aber auch gar nichts damit zu tun hat, dass man Übergriffen von außen in irgendeiner Weise befürwortend gegenüberstehen könnte).

Die selbstgesetzte Einzigartigkeit des US-amerikanischen Imperialismus

Warum verdienen die Vereinigten Staaten nun besondere Aufmerksamkeit? Hier gibt es mehrere Gründe, die ineinander wirken. Beginnen wir mit dem Selbstbild und Selbstanspruch, der nach außen hin vertreten wird. Dazu ein Zitat aus der Rede von Präsident Obama, die er im Mai diesen Jahres in West Point gehalten hatte:

“So sind und bleiben die Vereinigten Staaten die unentbehrliche Nation. Das ist wahr für das vergangene Jahrhundert gewesen und es wird wahr sein für das Jahrhundert, das kommt.”5

(Präsident Obama, Remarks by the President at the United States Military Academy Commencement Ceremony, 28.5.2014, West Point)

Und im Weiteren:

“Hier ist meine Grundposition: Amerika muss immer auf der Weltbühne führen. Wenn wir es nicht tun, wird niemand sonst es tun. Das Militär, dem Sie beigetreten sind, ist und wird immer das Rückgrat dieser Führerschaft sein. Aber Militärhandlungen der Vereinigten Staaten können nicht die einzige – oder auch nur primäre – Komponente dieser Führerschaft in allen Angelegenheiten sein. Nur weil wir den besten Hammer haben, heißt das nicht, dass jedes Problem ein Nagel ist. Und weil die Kosten, die mit Militärhandlungen verbunden sind, so hoch sind, sollten Sie von jedem zivilen Führer – und besonders Ihrem Oberbefehlshaber – erwarten, dass er Klarheit darin an den Tag legt, wie diese fantastische Macht genutzt werden sollte.”6

(Präsident Obama, Remarks by the President at the United States Military Academy Commencement Ceremony, 28.5.2014, West Point)

Wenngleich Obama im Gegensatz zu seinem neokonservativen Vorgänger darauf bedacht ist, auch der nicht militärischen Perspektive zumindest verbal einen Stellenwert einzuräumen, so macht er doch deutlich, welche Vorgehensweise sich die Vereinigten Staaten aufgrund ihres Führungsanspruchs weiterhin herausnehmen:

“Die Vereinigten Staaten werden militärische Gewalt gebrauchen, im Alleingang, falls nötig, wenn unsere Kerninteressen es verlangen – wenn unser Volk bedroht ist, wenn unsere Lebensgrundlage auf dem Spiel steht, wenn die Sicherheit unserer Verbündeten in Gefahr ist. Unter diesen Umständen müssen wir weiterhin strenge Fragen dazu stellen, ob unsere Handlungen verhältnismäßig und effektiv und gerecht sind. Die internationale Meinung spielt eine Rolle, aber Amerika sollte niemals um Erlaubnis Fragen, unser Volk, unser Heimatland oder unseren Lebensstil zu schützen.”7

(Präsident Obama, Remarks by the President at the United States Military Academy Commencement Ceremony, 28.5.2014, West Point)

Die Historie zur US-imperialen Einzigartigkeit von heute

Dass es sich bei dem Anspruch auf militärische Gewalt seitens der USA, auch wenn alle anderen Staaten dies ablehnen sollten, nicht um territoriale Landesverteidigung handelt, hat die Geschichte der Vereinigten Staaten mehr als deutlich gemacht. Die Liste der Kriege und kriegerischen Eingriffe in andere Länder seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs ist bei weitem die längste aller Staaten dieser Welt. Und sie ist global angelegt. Die Vereinigten Staaten greifen an jedem Punkt der Erde ein, wenn es ihnen möglich ist und wenn sie es wollen. Und sie definieren dabei selbst, was ihren Sicherheitsinteressen entspricht. Die Gesamtheit der Eingriffe macht dabei deutlich, dass weder Völkerrecht, noch Demokratie, noch Menschenrechte, noch Selbstverteidigung die leitenden Prinzipien sind, wie gern behauptet wird. William Blum, ehemaliger Mitarbeiter im US-Außenministerium und später freier Journalist, dokumentiert in dem Kapitel “Kurze Geschichte der internationalen Interventionen der USA, 1945 bis heute”8 69 bekannte Eingriffe (Stand: 2004, als das Buch herausgegeben wurde) in die Souveränität anderer Staaten. Die Liste reicht chronologisch von China (Eingriff in den Bürgerkrieg zu Gunsten der Nationalisten 1945-1951), über Griechenland (zweimal, zweites Mal: Unterstützung beim Militärputsch gegen den linksliberalen George Papandreou und bei der Etablierung der grausamen Militärdiktatur, 1967-1974) bis zum Irak-Krieg 2003 mit seinen bis zu einer Million direkten und konsekutiven Opfern9. Nahezu alle Erdteile sind wiederzufinden, von Mittel- und Südamerika über Europa, den Nahen Osten, Afrika bis nach Asien. Angriffskriege, Geheimaktionen, die Ausbildung und Finanzierung von Folterknechten, sind nur einige der Mittel, die hier zum Einsatz kamen.

Was hiervon ist im kollektiven Gedächtnis? Das kommt wohl ganz darauf an, in welchem Erdteil man sich befindet und mit welchen Grausamkeiten von außen die Menschen somit konfrontiert waren. In Mittel- und Südamerika jedenfalls dürfte ein besonders starkes historisches Bewusstsein für den US-amerikanischen Imperialismus vorherrschen, doch trifft dies sicherlich auch auf asiatische Länder zu. In Teilen des Nahen Ostens zeigen nicht nur die aktuellen bedauerlichen extremistischen Entwicklungen, wie viel Zorn durch die Wüterei der Vereinigten Staaten zum Fundament des Terrorismus werden konnte, sondern ebenso weisen Umfragen unter den arabischen Bevölkerungen nach, dass die USA als größte Bedrohung betrachtet werden, wie Noam Chomsky wiederholend berichtet. Was weiß die Bevölkerung hierzulande von Art und Ausmaß der US-Führungsrolle? Der völkerrechtwidrige Irak-Krieg von 2003 wird bei den meisten im Gedächtnis geblieben sein, sein wahres Gesicht dürfte hingegen verborgen bleiben. Vom US-gestützten Putsch Pinochets 1973 gegen den gewählten Präsidenten Chiles, Salvador Allende, hört man noch häufiger in linken Umfeldern10, die Unterstützung Präsident Carters beim Einmarsch des indonesischen Diktators Suharto in Osttimor, 1975, bei dem inklusive jahrzehntelanger Besatzung hunderttausende Menschen ums Leben kamen, dürfte hingegen weitgehend unregistriert bleiben.

Die Einzigartigkeit in der Behandlung durch den Medienmainstream

Man könnte hier ewig verweilen und eine außenpolitische Geschichte dokumentieren, die die Erzählungen vom Einstehen der Vereinigten Staaten für Demokratie und Menschenrechten ins Reich der traurigen Skurrilitäten verweist. (Innenpolitisch verhält es sich freilich nicht anders, wie unzählige Entwicklungen geradezu sinnlich erfahrbar machen. Selbst theoretisch wird mittlerweile nachgewiesen, dass es sich bei den Vereinigten Staaten um keine Demokratie, sondern eine Plutokratie handelt.11 Innenpolitik soll hier jedoch nicht mein Thema sein.) Natürlich, Demokratie und Menschenrechte werden auch von anderen Staaten mit Füßen getreten, doch die selbstdeklarierte Rolle der USA in der Welt betrifft alle Menschen unmittelbar. Es handelt sich nicht um irgendein Imperium, es handelt sich um DAS Imperium, das maßgeblich die Entwicklungen in der Welt bestimmt. Und seine Führer verkünden es ununterbrochen, lassen wir noch einmal Obama zu Wort kommen:

“Ich glaube an die amerikanische Einzigartigkeit mit jeder Faser meines Daseins. Aber was uns einzigartig macht, ist nicht die Fähigkeit internationale Normen und die Herrschaft des Rechts zu missachten; es ist unsere Bereitschaft, sie durch unsere Handlungen zu bekräftigen.”12

(Präsident Obama, Remarks by the President at the United States Military Academy Commencement Ceremony, 28.5.2014, West Point)

Ja, hier wird es wieder traurig skurril. Warum sollte man sich jedoch als friedensmotivierter Mensch besonders mit der Rolle der Vereinigten Staaten auseinandersetzen und Klartext reden? Weil nicht nur Obama an seine Rede glaubt, sondern auch weite Teile der Mainstreammedien hierzulande und in den anderen westlichen Ländern, wie es die Einseitigkeit der Berichterstattung deutlich werden lässt. Gerade jetzt, im Zuge der (herbeigeführten) Ukraine-Krise, der (herbeigeführten) Konfrontation mit Russland und der (mitverschuldeten) Barbareien durch die Terrororganisation “Islamischer Staat” wird in Anbetracht der Falschdarstellungen, Verdrehungen, Verkürzungen und Auslassungen geradezu ein Hollywood-Schema zur Interpretation der Weltpolitik an die westlichen Bevölkerungen vermittelt. Dies erfolgt im Medienmainstream teilweise mit einem Eifer, dass man den Eindruck hat, dass Obama selbst weniger an die Einzigartigkeit der USA glaubt, als die deutschen Berichterstatter es tun. So werden denn auch Völkerrechtsbrüche und Foltergefängnisse zwar aufgegriffen, jedoch nicht mehr in den Kontext zur allgemeinen Rolle gesetzt, die das Staatsgebilde in der Weltpolitik einnimmt. Dies könnte schließlich der propagierten Erzählung von den Vereinigten Staaten als fortschrittlicher Macht, als “großem Bruder” und “Verteidiger der Menschenrechte” (der, zugegeben, einige Fehler an den Tag legt) im Wege stehen. Die an die Menschen vermittelte Realität wird so in erheblicher Weise medial konstruiert. Ein Messen mit “zweierlei Maß”, wie etwa ein hervorragender Rundfunkbeitrag von Walter van Rossum (März 2013) zur asymmetrischen Berichterstattung der Mainstreammedien über die USA und Russland einst hieß, ist hier wahrlich nicht mehr der ausreichende Begriff.

Einen angemesseneren Begriff scheint mir eher der niederländische Journalist und Hochschulprofessor Karel van Wolferen zu verwenden, indem er vom Atlantizismus spricht:

“Um die europäische Medienloyalität Washington gegenüber in Sachen Ukraine und das sklavische Verhalten europäischer Politiker ins rechte Licht zu rücken, muss man den Atlantizismus kennen und verstehen. Es ist ein europäischer Glaube. Er ist natürlich nicht zu einer offiziellen Doktrin geworden, funktioniert aber wie eine. Es ist gut zusammengefasst durch den niederländischen Slogan zur Zeit des Irakkriegs „zonder Amerika gaat het niet“ (ohne Amerika geht es nicht). Unnötig zu sagen, dass der Atlantizismus ein Kind des Kalten Krieges ist. Ironischerweise hat er an Kraft gewonnen, als die Bedrohung durch die Sowjetunion für eine immer größere Zahl europäischer politischer Eliten immer weniger überzeugend wurde. “

(Karel van Wolferen, Die Ukraine, korrupter Journalismus und der Glaube der Atlantiker , 14.8.2014, Übers. NachDenkSeiten)13

Der Text von Herrn van Wolferen ist auch ansonsten empfehlenswert zu lesen, da er die Perspektive eines langjährigen kritischen Journalisten und Wissenschaftlers auf die aktuellen politischen Entwicklungen anwendet.

Propaganda wie im Kalten Krieg, hin zum Kalten Krieg

Ob nun Präsident Obama selbst begeistert von der genauen Rolle ist, die die Vereinigten Staaten spielen, oder ob er in vielen Belangen mehr der Getriebene neokonservativer Machtfraktionen ist, ist von nachgeordneter Bedeutung. Wichtig ist, dass sich all jene, die sich eine friedlichere und gerechtere Welt wünschen, daran beteiligen, den allumfassenden Propagandaanstrengungen entgegenzutreten, und den Atlantizismus zu überwinden. Denn dies ist es momentan, was die Welt in einen neuen Kalten Krieg zu führen droht, der die Realität der nächsten Jahrzehnte bestimmt. Hier räumt Obama selbst den Einfluss der Vereinigten Staaten ein, wenngleich er nicht vom Kalten Krieg sprechen will:

“In der Ukraine ließen Russlands letzte Handlungen an die Tage erinnern, als Sowjet-Panzer in Osteuropa einrollten. Aber dies ist kein Kalter Krieg. Unsere Fähigkeit die Weltmeinung zu gestalten, half dabei, Russland auf Anhieb zu isolieren. Aufgrund der amerikanischen Führung verurteilte die Welt augenblicklich die russischen Handlungen; Europa und die G7 schlossen sich uns an, Sanktionen aufzuerlegen; die NATO verstärkte unsere Zusage an die osteuropäischen Alliierten.”14

(Präsident Obama, Remarks by the President at the United States Military Academy Commencement Ceremony, 28.5.2014, West Point)

Die Hintergründe hierbei sind, dass die Vereinigten Staaten über ein enormes Potential verfügen, die Weltmeinung zu “gestalten”, oder besser gesagt, zu formen, wie Obama bestätigt. Atlantizismus als Religion großer Teile der europäischen Eliten, Journalisten der Leitmedien in transatlantischen Think Tanks, enorme Propagandaressourcen staatlicherseits15 und natürlich die jahrzehntelange Vorherrschaft durch die USA befähigen das Land – besser gesagt, seine Eliten und Machtinstitutionen – Realität in der westlichen Welt zu einem erheblichen Teil zu setzen, sowie maßgeblich auch auf die öffentliche Meinung in anderen Erdteilen jenseits weltpolitischer Fakten einzuwirken.

Eine Linke, die sich dem nicht vehement entgegenstellt, und mit unängstlicher Kritik auf die rücksichtslose und selbstgewählte “Einzigartigkeit” der Vereinigten Staaten hinweist, um dem kriegstreibenden Propagandafeuer zu begegnen, eine Linke, die durch lapidaren Verweis darauf, dass alle kapitalistischen Staaten letztlich imperialistisch seien, einen erheblichen Teil der Unterdrückungsgeschichte seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs zu relativieren und zu verschleiern hilft, leistet hier einen zweifelhaften Beitrag. Dies tut sie besonders dann, wenn sie auch noch Label wie “Antiamerikanismus” oder “Verschwörungstheorie” dort zu transportieren hilft, wo sie im Dienste der Macht stehen. Und solch eine Linke verschafft sich auch dadurch Unglaubwürdigkeit, dass die konsequentesten Kritiker und Aufklärer sich gerade in den Vereinigten Staaten selbst finden lassen. Zumindest ihnen im Europa der Atlantizisten ausreichend Gehör zu verschaffen, wäre von immenser Bedeutung, in Anbetracht der hoffnungstrübenden Propagandastrukturen.

Gewalt im Verborgenen, die sich ihre eigene Grundlage schafft

Überaus bedeutsam, was die Hintergrundmechanik von Gewalt, Hass und Chaos betrifft, die den Vereinigten Staaten auch künftig als Rechtfertigungsgrundlage für ihre Einzigartigkeit dienen, liegt in der zunehmenden Rolle moderner Kriegsführung. Militärische Gewalt erfolgt hier im Verborgenen, entgrenzt, außerhalb jedweden Rechtsrahmens und an der geringsten demokratischen Kontrolle vorbei. Hier sei daher verwiesen auf den Dokumentarfilm zu den Arbeiten des investigativen US-Journalisten Jeremy Scahill:

“Schmutzige Kriege – Dirty Wars” (2013, Video auf YouTube)

Die Dokumentation zeigt auf, wie der selbsternannte “Weltpolizist” (eine freilich äußerst unangemessene Metapher) hier zum unbeobachteten Weltterroristen wird, der mit seinem Handeln zum Terrorismus der anderen beiträgt, und sich so die Rechtfertigungen für sein weiteres Agieren verschafft. In der Dokumentation wird eingegangen auf das sog. Joint Special Operations Command, das im Auftrag der US-Regierung und am Kongress vorbei, im Nahen Osten und Afrika grausame Taten verübt:

“Die Welt ist ein Schlachtfeld und wir befinden uns im Krieg. Deshalb kann das Joint Special Operations Kommando gehen, wohin es will, und tun, was es will. Alles im Dienst der nationalen Sicherheit.”

(Informant gegenüber Jeremy Scahill, Schmutzige Kriege – Dirty Wars, Dokumentation von 2013)

Jeremy Scahill lässt die Dokumentation mit folgenden Worten enden:

“Vor unseren Augen werden inoffizielle Kriege angezettelt, überall auf der Welt. Werden Ausländer und Amerikaner gleichermaßen per Dekret des Präsidenten ermordet. Der Krieg gegen Terror verwandelt sich in eine sich selbst erfüllende Prophezeiung. Kann solch ein Krieg jemals enden? Und was geschieht mit uns, wenn wir endlich sehen, was direkt vor unseren Augen verborgen war?”

(Jeremy Scahill, Schmutzige Kriege – Dirty Wars, Dokumentation von 2013)

Auf derartige Entwicklungen aufmerksam zu machen, die die Pathologie des Westens unter Vorherrschaft der US-amerikanischen Imperialmacht beleuchten, müsste zentrale Aufgabe all jener Kräfte sein, die sich einer Zukunft der Barbarei entgegenstellen. Eine wichtige Tätigkeit hierbei besteht darin, die Dinge in den Zusammenhang zueinander zu stellen. Wer die Mainstreammedien beobachtet, merkt, wie ihre propagandistische Fähigkeit darin besteht, die grausame Faktenlage so sehr zu zerbröseln, dass Widersprüche und Verlogenheit genauso wie der Krieg der Zukunft für weite Teile der demokratischen Zivilgesellschaft im Verborgenen bleiben. Hiergegen gilt es sich aufzulehnen.

Zwei Beispiele eines Journalismus, der hier Aufklärungsarbeit leistet, seien abschließend noch genannt:

Dan Fromkin beginnt seine Arbeit beim Portal The Intercept und räumt auf mit der Illusion, bei Obama handele es sich um einen gemäßigten Vertreter der US-amerikanischen Politik:

“Obama Makes Bushism The New Normal” (The Intercept, 3.9.2014)

John Pilger, der sich seit Jahrzehnten als überaus kritischer Kriegsreporter und Dokumentarfilmer verdient gemacht hat, weist mit seinem Film über die zahlreichen US-Eingriffe in Lateinamerika nach, wie sich die US-Außenpolitik gerade nicht für, sondern gegen die Demokratie eingesetzt hat:

“The War on Democracy” (John Pilger, Dokumentation von 2007, zugänglich auf vimeo.com)

 

  1. Für die meisten Begriffe gibt es jedoch auch keine Definition in Form notwendiger und hinreichender Bedingungen, wie die Konzeptforschung zu sagen weiß. Für jene Begriffe, die einem Theoriekontext entspringen, wie dies bei dem des Antiamerikanismus oder auch jenem des Antisemitismus der Fall ist, verhält es sich hingegen anders. []
  2. Der Versuch erfolgt ständig, für ein plumpes Beispiel sei auf die Ansprache des damaligen Bundeskanzlers Schröder zu den NATO-Angriffen auf die Bundesrepublik Jugoslawien verwiesen: “Wir führen keinen Krieg. Aber wir sind aufgerufen, eine friedliche Lösung im Kosovo auch mit militärischen Mitteln durchzusetzen.”, siehe min. 1:15 in “Es begann mit einer Lüge”, WDR-Dokumentation, 2001 []
  3. Leider wurde diese Einleitung des Europawahlprogramms dann später durch eine in der Benennung weniger beherzte Version ausgetauscht. Man könnte auch davon reden, dass sie einer beschwichtigenden Version weichen musste. []
  4. siehe hierzu etwa die Dokumentation zu Naomi Kleins Buch “The Shock Doctrine”, z.B. hier, ab min. 39:00 []
  5. Übers. Maskenfall, Original: “So the United States is and remains the one indispensable nation. That has been true for the century passed and it will be true for the century to come.” []
  6. Übers. Maskenfall, Original: “Here’s my bottom line: America must always lead on the world stage. If we don’t, no one else will. The military that you have joined is and always will be the backbone of that leadership. But U.S. military action cannot be the only — or even primary — component of our leadership in every instance. Just because we have the best hammer does not mean that every problem is a nail. And because the costs associated with military action are so high, you should expect every civilian leader — and especially your Commander-in-Chief — to be clear about how that awesome power should be used. “ []
  7. Übers. Maskenfall, Original: “The United States will use military force, unilaterally if necessary, when our core interests demand it — when our people are threatened, when our livelihoods are at stake, when the security of our allies is in danger. In these circumstances, we still need to ask tough questions about whether our actions are proportional and effective and just. International opinion matters, but America should never ask permission to protect our people, our homeland, or our way of life. “ []
  8. Siehe Bernd Hamm, Gesellschaft zerstören – Der neoliberale Anschlag auf Demokratie und Gerechtigkeit, 2004 []
  9. siehe “Mortality after the 2003 invasion of Iraq: a cross-sectional cluster sample survey”, Burnham, Lafta, Doocy & Roberts, 2006 []
  10. Siehe zur US-Rolle bei der Deckung von Menschenrechtsverbrechen durch Pinochets Militär-Diktatur etwa ein frei gegebenes Originaldokument zu einem Gespräch zwischen Henry Kissinger und Pinochet vom 8. Juni 1976 []
  11. siehe z.B. Gilens & Page (forthcoming), Testing Theories of American Politics: Elites, Interest Groups, and Average Citizens []
  12. Übers. Maskenfall, Original: “I believe in American exceptionalism with every fiber of my being. But what makes us exceptional is not our ability to flout international norms and the rule of law; it is our willingness to affirm them through our actions.” []
  13. Original siehe The Ukraine, Corrupted Journalism, and the Atlanticist Faith, The Unz Review: An Alternative Media Selection []
  14. Übers. Maskenfall, Original: “In Ukraine, Russia’s recent actions recall the days when Soviet tanks rolled into Eastern Europe. But this isn’t the Cold War. Our ability to shape world opinion helped isolate Russia right away. Because of American leadership, the world immediately condemned Russian actions; Europe and the G7 joined us to impose sanctions; NATO reinforced our commitment to Eastern European allies […]” []
  15. allein das US-Verteidigungsministerium verfügte laut Zeitungsberichten 2009 über 27000 PR-Angestellte, der Artikel ist mittlerweile leider nicht mehr auf der Website des Tagesanzeiger verfügbar []

Jascha Jaworski

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