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No 396

“Tausende von Menschen mit einem Gesamtvermögen von mehreren hundert Milliarden Dollar, vielleicht sogar einer Billion, versammeln sich diese Woche in Davos. Wohl niemals zuvor in der Weltgeschichte war der Reichtum je Quadratmeter1 so groß. In diesem Jahr, zum siebten oder achten Mal in Folge, ist eines der Hauptthemen, mit denen sich diese Industriekapitäne, Milliardäre oder Arbeitgeber von Tausenden von Menschen auf der ganzen Welt beschäftigen, Ungleichheit. Auch die neuen >>heißen<< Themen des Tages – Handelskriege und Populismus – sind wiederum miteinander verbunden oder gar verursacht durch Ungleichheit bei Einkommen, Reichtum oder politischer Macht. […]
Es ist nicht überraschend, dass seit der globalen Finanzkrise nichts unternommen wurde, um gegen Ungleichheit vorzugehen. Vielmehr ist das Gegenteil passiert. Donald Trump hat, wie versprochen, eine historische Steuersenkung für die Reichen verabschiedet; Emmanuel Macron hat die Anziehungskraft des modernen Thatcherismus entdeckt; Die chinesische Regierung hat die Steuern für die Reichen gesenkt und die linken Studenten der Universität Peking, die streikende Arbeiter unterstützten, inhaftiert. In Brasilien scheint Jair Bolsonaro Lob auf Folter und den steigenden Aktienmarkt als ideale Mischung des modernen Kapitalismus zu betrachten.
Bizarrerweise wurde diese Rückkehr zu den Arbeitsbeziehungen und der Steuerpolitik des frühen 19. Jahrhunderts von Menschen angeführt, die die Sprache der Gleichheit, des Respekts, der Partizipation und der Transparenz sprechen. Die jährliche Versammlung in Davos ist in dieser Hinsicht nicht nur ein Beweis für die finanzielle Überlegenheit der Eliten. Es soll auch ihre moralische Überlegenheit zeigen. Dies ist im Einklang mit einem seit langer Zeit bestehenden Trend: In den vergangenen fünfzig Jahren wurde die Sprache der Gleichheit genutzt, um die strukturell unegalitärste Politik überhaupt zu verfolgen.”2

(Branko Milanović, ehem. Chefvolkswirt der Forschungsabteilung der Weltbank und renommierter Ungleichheitsforscher – Davos Elites Love to Advocate for Equality – So Long As Nothing Gets Done, ProMarket Blog, 23.1.2019, Übers. Maskenfall)

  1. Anm. JJ: SI-analogisiert, ursprünglich: square foot []
  2. Anm. JJ: Wie viele Male kam das Wort “Ungleichheit” in der jüngsten Davos-Rede von Kanzlerin Merkel vor? Null mal. Das Wort “Reichtum”? Null mal. Immerhin, das Wort “Armut” erwähnte sie drei mal in einem kurzen Abschnitt, wobei es stets vom Adjektiv “extrem” begleitet war. Und hier ging es nur darum, zu loben, wie stark diese Form der ökonomischen Ausgrenzung im weltweiten Maßstab doch in den letzten Jahrzehnten zurückgegangen ist. Keine Sorge jedoch, “extreme Armut” wird den Industrieländern ja nicht zugeschrieben, dieses Risiko auf sozialstaatliches Handeln, womöglich noch gegenfinanziert durch Steuern, wird in der Rede der Kanzlerin also umschifft. Da ist Verlass auf die nun allmählich scheidende “Führerin der freien Welt”, zu der sie ja in Folge des Trump-Schocks vom Gouvernantenjournalismus vor nicht langer Zeit erst ausgerufen wurde. Ihre Parteigranden machen derweil neoliberale Arbeitsteilung, indem sie tatsächlich nach weiteren Milliarden-Steuererleichterungen für den Unternehmenssektor rufen oder den “Soli” auch für die obersten Prozente der Bevölkerung abschaffen wollen (zu letzteren einschlägigen Verteilungswirkungen von unten nach oben siehe Daten vom DIW). Während die Davos-Elite sich noch nicht entschieden hat, ob sie jetzt lieber zum progressiven Neoliberalismus (“lass mich ökonomisch ausgrenzen und es gibt ein bißchen mehr Minderheitenrecht”), regressiven Neoliberalismus (“ökonomische Ausgrenzung können wir auch ohne Homo-Ehe”) oder regressiven Populismus (ökonomische Ausgrenzung und Kampf gegen Minderheitenrechte im Namen des Volkes), übt sich die CDU weiter eifrig im Populismus für die Population der Industriekapitäne, während die SPD-Führungsetage weiterhin nicht weiß, wie sie im Sinne der abhängig und nicht so selten prekär Beschäftigten an die Wurzeln der Misere gehen soll (Machtkonzentration bei Unternehmen und Reichen), ohne zugleich diese ihre vor längerer Zeit lieb gewonnene Rolle als Fußwärmer am Tisch der Mächtigen – aber immerhin am Tisch der Mächtigen – aufgeben soll, ohne zugleich einzugestehen, dass dieser Pfad genau ins Verderben geführt hat und eine Mischung aus Ideenlosigkeit, Angst, Korrumpiertheit und Dummheit war, wenngleich auch eben überaus modisch, weil dem damaligen Zeitgeist verpflichtet. Nun besitzt dieser jedoch in Anbetracht der Verhältnisse noch so viel Strahlkraft, wie Sonnenkönig Louis XIV, nachdem er haar- und zahnlos geworden am Ende seines lasterhaften Lebens nur noch im Sinn  hatte, sich von der katholischen Kirche einen Platz im Himmel zu erkaufen. Genug geschimpft, für’s Erste. []

Jascha Jaworski

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