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No 631

“Was passiert ist, dass das, was sich über lange Zeit angebahnt hat, nämlich die zunehmende Besiedlung, das zunehmende Verwischen der grünen Linie zwischen Israel, Kernland Israel und den besetzten Gebieten, dass das jetzt ganz offizielle Regierungspolitik ist. Also, klare Absage an eine Zwei-Staaten-Regelgung, kein Platz für palästinensische Souveränität oder Staatlichkeit, jüdischer Anspruch auf das gesamte Gebiet und Vorantreiben von Siedlungspolitik und eben der Gleichstellung der Siedlerinnen und Siedler mit den anderen Staatsbürgern Israels, d.h., die werden nicht mehr als Bevölkerung gesehen, die in einem Gebiet leben, was nicht dem israelischen Staatsgebiet zugehörig ist, sondern, in der Diktion der Regierung, die Anwendung von Souveränität eben im gesamten Gebiet. […] D.h., was wir hier sehen ist Annexion, aber das Wort Annexion wird nicht ausgesprochen. Weil, 2020, unter der vorherigen Netanjahu Regierung, gab es eben den Beschluss, 30% der Westbank zu annektieren und da gab es dann doch sehr sehr deutlichen Widerstand, aus Europa, aus anderen Teilen der Welt, und deshalb hat man sich dafür entschieden, dass man zwar annektieren möchte, aber es nicht so nennt. […]
[…] Die jetzige israelische Regierung hat angefangen, sogenannte Siedlungsaußenposten zu legalisieren. Das sind die Siedlungen, die auch nach israelischem Recht bislang illegal waren, und davon gibt es über 100 in der Westbank, die zum Teil sehr tief in der Westbank sind. Und wenn man die alle legalisiert, vergrößert, anschließt an die Infrastruktur, dann ist gar nichts mehr da an Territorium für einen palästinensischen Staat. Das hat der oberste Gerichtshof bislang verhindert, und das ist aber ein Punkt, warum ihm diese Kompetenzen genommen werden sollen.”

(Muriel Asseburg, Wissenschaftlerin bei der Stiftung Wissenschaft und Politik – Nahost-Expertin Muriel Asseburg über Israel & Palästina – Jung & Naiv: Folge 647, YouTube-Kanal von jung & naiv, 27.6.2023)

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No 630

“Wer in der zivilisierten Welt ein Auto fahren will, muss nachweisen, dass er Bewegungsrichtung und Geschwindigkeit seines Fahrzeugs richtig einschätzen, die Hilfsmittel zur Stabilisierung beherrschen und einen gewissen Überblick über das Verkehrsgeschehen gewinnen kann. Diese Nachweispflicht findet allgemeine Zustimmung in der Bevölkerung, weil der Fahrwillige nicht nur sich selbst, sondern auch andere in höchste Gefahr bringen kann, wenn er die geforderten Fähigkeiten und Kenntnisse nicht hat. Wer eine Volkswirtschaft lenkt, muss nichts dergleichen nachweisen, obgleich die allgemeine Gefährdung für Leben und Wohlergehen der Bevölkerung, die von seinen Fehlurteilen und seinem Fehlverhalten ausgeht, enorm ist. Solche Vergleiche drängen sich bei der Beschreibung auf, wie die Bundesregierung gegenwärtig mit der Wirtschaft des Landes umgeht.”

(Heiner Flassbeck und Friedericke Spiecker, Makroökonom*innen – Noch auf des Messers Schneide? Die Bundesregierung verkennt die konjunkturelle Lage, Relevante Ökonomik, 11.7.2023)

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No 629

“Wir müssen nicht warten, bis das chinesische Bruttosozialprodukt unseres übertrifft, wir sind schon überholt. In diesem Sinne, dass wir nicht mehr unser Schicksal bestimmen. Nun, die Chinesen bestimmen ihr Schicksal auch nicht, also die Welt ist konstitutiv multipolar. Wir sind nicht mehr in den 90er Jahren. Und, ich meine, wenn wir das irgendwie, wenn wir das wirklich intus hätten, das wäre wirklich was Gutes. Ich meine auch kulturell, dass wirklich, also, diese – Bescheidenheit ist zu viel gesagt – aber, dass wir einfach nur wirklich wissen, wo man steht. […] Von China sollen wir einfach erstmal nur lernen, dass es China gibt.”

(Adam Tooze, britischer Wirtschaftshistoriker – Wirtschaftshistoriker Adam Tooze über US-Hegemonie, Kapitalismus & Klima, Interview bei Jung & Naiv, Youtube-Kanal von Jung & Naiv, 13.7.2023)

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No 628

“Die Tafeln in Deutschland beklagen angesichts stark gestiegener Lebensmittelpreise einen >>Ausnahmezustand<< bei der Verteilung von Lebensmitteln für Bedürftige. Während sich die Anzahl der Kunden an manchen Standorten >>fast verdoppelt<< habe, seien die Lebensmittelspenden >>teilweise um 50 Prozent zurückgegangen<<, sagte der Vorstandsvorsitzende des Tafel-Landesverbands Schleswig-Holstein und Hamburg, Frank Hildebrandt, dem Redaktionsnetzwerk Deutschland (RND, Mittwochsausgaben). Tafel-Bundeschefin Michaela Engelmeier forderte den Staat auf, >>das Existenzminimum<< der Menschen abzusichern.
Es gebe >>erschreckende<< Berichte von den Tafeln, sagte Engelmeier weiter. In Zeiten von >>Rekordinflation und Preisexplosion<< könnten sich viele Menschen >>nicht einmal mehr das Essen leisten<<.
Betroffen seien nicht nur Menschen, die Bürgergeld empfingen, sondern auch Millionen Geringverdiener und Rentner. Die Ehrenamtlichen der Tafeln, deren Zahl >>nahezu konstant<< geblieben sei, arbeiteten >>an der absoluten Belastungsgrenze – sowohl psychisch als auch körperlich<<, sagte Tafel-Sprecherin Anna Verres.”

(Die Welt – „Ausnahmezustand“ – Tafeln fordern Hilfe von der Politik, Welt.de, 6.7.2023)

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No 627

“[Heitmeyer:] Meine These war schon 2001, dass der Nutznießer dieser Entwicklung ein rabiater Rechtspopulismus sein würde. Was da noch nicht eingerechnet war, ist das wir seit 2001 eine nicht enden wollende Serie von oft systembedingten Krisen erleben. Krisen sind dadurch definiert, dass die herkömmlichen Instrumente nicht mehr funktionieren und die Zustände vor der Krise nicht wiederherstelbar sind. Viele Menschen haben seither verstärkt Gefühle, über ihre Biografie die Kontrolle zu verlieren. Der autoritäre Nationalradikalismus konnte sich nicht zuletzt deshalb stabilisieren, weil er verspricht, die Kontrolle wiederherzustellen.
[Interviewer:] Ist der Rechtspopulismus somit auch das Symptom einer an sich selbst krankenden liberalen Ordnung?
[Heitmeyer:] Ja, insofern der entfesselte ökonomische Neoliberalismus in der Globalisierung der 1990er- und 2000er Jahre zu gesellschaftlichen Verwerfungen geführt hat, die von nationalradikalen Akteuren politisch ausgebeutet werden können. >>Deutschland zuerst<<.”

(Wilhelm Heitmeyer, ehem. Direktor des Instituts für interdisziplinäre Konflikt- und Gewaltforschung (IKG) und Leiter der Studie >>Deutsche Zustände<< – Wilhelm Heitmeyer: „Krisen und Kontrollverluste sind die wirkungsvollsten Treiber“, Philosophie Magazin, 19.6.2023)

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No 626

“>>Wir unterstützen die groß angelegten Rettungsversuche der Crew des im Atlantik vermissten U-Boots entschieden<<, sagte Giulia Messmer. Dennoch betonte die Sprecherin: >>Genau diese Reaktion, Menschen vor dem Ertrinken zu retten, fordern wir seit Jahren im Mittelmeer. Wir kritisieren, dass die gleichen Anstrengungen nicht für alle Menschen unternommen werden – egal wie viel Geld sie auf ihrem Bankkonto haben oder warum sie sich in Seenot befinden.<<
Sea-Watch kommt zu einem ernüchternden Urteil: >>Die aktuellen Geschehnisse zeigen eines glasklar: Der Schiffbruch vor Griechenland – wie auch unzählige andere zuvor – ist die unmittelbare Folge politischer Entscheidungen, die Menschen daran hindern sollen, in Europa anzukommen. Denn an Rettungskapazitäten scheint es nicht zu mangeln, wenn man sich die Rettungsversuche des verschollenen U-Boots im Atlantik anschaut.<<
Der Vorgang unterstreiche, wie sehr allgemeine Menschenrechte durch Rassismus untergraben würden. >>Weder der immense Unterschied in bereitgestellten Rettungskapazitäten, noch in medialer Berichterstattung, deuten darauf hin, dass dieser Grundsatz tatsächlich für jede Person gilt<<, betonte Sprecherin Messmer.”

(Max Müller, Journalist – Sea-Watch kritisiert zweierlei Maß bei Titanic-U-Boot Rettung: >>Gleiche Anstrengungen nicht für alle Menschen<<, Frankfurter Rundschau, 22.6.2023)

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No 625

“Denn der europäische Asyl->>Kompromiss<< zielt ebenso eindeutig wie einseitig auf die Abschottung gegen unerwünschte Migration – und ähnelt auf bemerkenswerte Weise Seehofers Vorschlägen zur Errichtung von >>Transitzentren<< aus dem Jahr 2018. Die Inhaftierung von Migrant*innen direkt an der Grenze, das war ein politisches Projekt, das die damalige schwarz-rote Regierung beinahe zerrissen hätte. Zehntausende gingen gegen diese Asylpolitik auf die Straße, allein in Bayern, über 200.000 waren es in Berlin bei der unteilbar-Demonstration. Die CSU greift das Asylrecht an? Das provozierte den Widerstand des grün-liberalen Milieus.
Jetzt, unter einer rot-grün-liberalen Regierung, kommt alles so, wie es sich die parlamentarische Rechte schon lange wünscht: beschleunigte und von Rechtsschutzauflagen praktisch gänzlich befreite Asylverfahren an den EU-Außengrenzen, in die all jene Personen einbezogen werden, die wegen der restriktiven Anerkennungsentscheidungen der Mitgliedsstaaten nur >>geringe Aussicht auf Schutz<< haben. […]
Baerbock bezeichnet dies mit einer marktgängigen Politfloskel als >>schmerzhaften Kompromiss<< – was hier offen perfide Züge annimmt, wird doch suggeriert, dass das eigentliche Leid dem grünen Spitzenpersonal zugefügt werde. >>Regierungsverantwortung zu tragen bedeutet für mich, sich solchen Dilemmata zu stellen<< – und zwar offensichtlich auf die Weise, sie zugunsten der Volksseele und zulasten der Humanität aufzulösen. […]”

(Stephan Lessenich, Soziologe und Politiker – Inhumanes Asylrecht, Katar-Gas – Hartz IV: Das können nur die Grünen, der Freitag, 14.6.2023)

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No 624

“Und wir haben uns nie verleiten lassen, dass wir irgendwie anfangen, unseren Zorn, unsere Wut über all diese Situationen und bewusst produzierten Zustände, dass wir die nie gelenkt haben gegen die Menschen, die mit dem Plastiksack bei uns angekommen sind. Ein Nogo. Wir haben sie gelenkt gegen die Leute, die diese politischen Zustände zu verantworten gehabt haben in Wien. Und ich kann euch sagen, ich habe acht Innenminister mittlerweile schon verbracht in meiner Amtszeit als Bürgermeister. Ich habe noch jedes Mal diese Situation und diese Auseinandersetzung auch moralisch und politisch gewonnen, auch wenn es länger gedauert hat, liebe Genossinnen und Genossen. Und wisst ihr, was dieses >>Ball führen<< noch heißt in unserer Stadt? Dass es auch für uns keinen Widerspruch des Helfens gibt und der auch nicht von außen hereinkonstruierbar ist. Den gibt es einfach nicht. Weil wir helfem einem jedem. Nicht allein Flüchtenden, wenn sie uns brauchen, sondern wir helfen auch jeder Mindestpensionistin, jeder Alleinerziehenden, jedem armutsgefährdeten Kind, und überhaupt, jedem, der Unterstützung braucht. […] Sozialdemokratie an der Seite der Menschen, woher sie kommen, ist zweitrangig, ob sie Hilfe brauchen, ist das erste Ziel unserer Bewertung, liebe Genossinnen und Genossen.”

(Andreas Babler, neuer Parteivorsitzender der SPÖ – Rede auf dem außerordentlichen Parteitag der SPÖ, YouTube-Kanal der SPÖ, 3.6.2023)

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No 623

“Die Wirtschaftshistorikerin Clara E. Mattei geht in ihrem Werk The Capital Order (2022) den Ursprüngen und der Logik der Austeritätspolitik nach und zeigt auf, wie die Austerität in Reaktion auf revolutionäre Tendenzen in der Zeit unmittelbar nach dem Ersten Weltkrieg entstand. Während des Krieges verleiteten materielle Sachzwänge alle Kriegsparteien dazu, ihre Wirtschaft von einer Markt- zu einer Planwirtschaft umzustellen, in der nicht mehr für den Profit, sondern für den Sieg produziert wurde.
Mit der erfolgreichen Verstaatlichung von Schlüsselindustrien zeigte sich in vielen Ländern, dass zwei der tragenden Säulen des Kapitalismus – das Privateigentum über die Produktionsmittel und das System der Lohnarbeit – entbehrlich oder sogar einer effizienten Produktion hinderlich waren. >>Die Wirtschaft<< verlor jeglichen Anschein der Autonomie und Naturgesetzlichkeit und entpuppte sich als das, was sie eigentlich schon immer gewesen war: ein weites Feld politischer Gestaltungsmöglichkeiten.
Die Erfahrung, dass kapitalistische Institutionen optional waren, beförderte in der vom Krieg gebeutelten Arbeiterklasse die Forderung, nicht einfach wieder zum Vorkriegszustand zurückzukehren.[…]
Seit nunmehr hundert Jahren folgt die Austeritätspolitik dem gleichen Schema: Nach einem wirtschaftspolitischen Ausnahmezustand, der weitreichende staatliche Eingriffe in den Markt erfordert, muss die Illusion von Politik und Ökonomie als abgetrennte Sphären wieder aufgebaut werden. […]
Die Priorisierung eines ausgeglichenen Haushalts und die Bekämpfung der Inflation auf Kosten des Beschäftigungs- und Lohnwachstums erfolgt nicht wider besseren Wissens, sondern muss als Klassenkampf von oben erkannt werden.”

(Max Hauser, Ökonom – Austerität ist Klassen­kampf von oben, Jacobin, 2.6.2023)

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No 622

“Es ist eine exakte Neuauflage der Debatte, die die Eurokrise der 2010er Jahre beherrschte. Schon damals bestanden Deutschland und die EU nach der Lockerung der Haushaltsregeln, um die massive Rettung des Bankensystems zu ermöglichen, darauf, dass es keine Alternative zur Auferlegung harter fiskalischer Sparmaßnahmen für die große Mehrheit der europäischen Länder geben dürfe, insbesondere nicht für die Länder der Peripherie.
Diese Politik hat nicht nur die Arbeitslosigkeit in die Höhe getrieben, den Sozialstaat ausgehöhlt, große Teile der Bevölkerung an den Rand der Armut gedrängt und im Falle Griechenlands und anderer Länder eine echte humanitäre Notlage heraufbeschworen – sie hat auch ihr erklärtes Ziel völlig verfehlt: das Wachstum anzukurbeln und die Verschuldung im Verhältnis zum BIP zu senken. Im Gegenteil, die Austerität hat die Volkswirtschaften in die Rezession getrieben und die Verschuldung im Verhältnis zum BIP erhöht. In der Zwischenzeit wurden die demokratischen Normen drastisch umgestoßen, da ganze Länder im Wesentlichen unter >>kontrollierte Verwaltung<< gestellt wurden. Das Ergebnis war ein >>verlorenes Jahrzehnt<< der Stagnation und Permakrise, welches zu einer tiefen Kluft zwischen dem Norden und dem Süden der Eurozone führte und die Währungsunion an den Rand der Selbstzerstörung brachte. […]
Es ist jedoch kaum vorstellbar, wie Europa eine zweite Runde der Sparpolitik überleben könnte. Die Weltwirtschaft befindet sich in einem weitaus düsteren Zustand als noch vor einem Jahrzehnt: Der Kontinent ist mit einer hohen Inflation, Unterbrechungen der Versorgungsketten, einer globalen Fragmentierung und einem Krieg an Europas Grenze zu Russland konfrontiert, dessen Ende nicht absehbar ist.
Und hier liegt auch das größte Paradoxon der gegenwärtigen Situation: Während die EU einen Plan ausarbeitet, um die Staaten dazu zu bringen, ihre Gesamthaushalte zu kürzen, fordert sie gleichzeitig die Regierungen auf, ihre Verteidigungshaushalte auf mindestens 2 Prozent des BIP zu erhöhen, um das Ausgabenziel der Nato einzuhalten. […]
Die europäischen Länder werden bald gezwungen sein, Sozialleistungen und wichtige Investitionen in nicht verteidigungsrelevanten Bereichen zu kürzen, um die neue Verteidigungswirtschaft der EU zu finanzieren.”

(Thomas Fazi, Journalist und Autor – Der Aufstieg der militärischen Austerität in Europa, Makroskop, 24.5.2023)